Im Nahostkonflikt gibt es viele Wahrheiten

Schutz oder Schikane? Eine Sperranlage riegelt das West­jordanland, ein Teil der palästinensischen Autonomiegebiete, ab. (Foto: Harry Pockets/Wikimedia)

Aeneas-Silvius-Ringvorlesung 2017/2018 zu Wissen und Wahrheit

Gibt es Wahrheit im Nahostkonflikt? Ein Vortrag zu diesem ebenso aktuellen wie brisanten Thema von Erik Petry, stellvertretender Leiter des Zentrums für Jüdische Studien der Universität Basel, beendete die Ringvorlesung der Aeneas-Silvius-Stiftung.

Den Nahostkonflikt kann man auch so umschreiben, wie es Erik Petry einleitend tut: «Eine hochemotionale Situation, bei der eigentlich alle immer alles ganz genau wissen.» Doch was die einen wissen, ist nicht das gleiche, was die anderen ebenfalls zu wissen beanspruchen. Die Wahrheit sieht je nach Optik ganz unterschiedlich aus.

Um die heutigen Konfliktlinien verständlich zu machen, blendet Petry zurück in die entscheidende Phase zwischen 1945 und 1949. 1945 steht Palästina seit 25 Jahren unter britischer Hoheit, seit 1922 offiziell als Mandatsgebiet. Im Februar 1947 kündigt Grossbritannien an, das Mandat zurückgeben zu wollen. Die im Oktober 1945 gegründete UNO übergibt die Sache einer Kommission, diese schlägt vor, Palästina in einen Staat der Juden und einen Staat der Araber aufzuteilen. Mit 33 Ja gegen 13 Nein für den Teilungsplan kommt bei der Abstimmung im November 1947 die nötige Zweidrittelmehrheit zustande. Den Plan abgelehnt haben insbesondere arabische Länder.

Einen Tag vor Ablauf des Mandats, am 14. Mai 1948, prescht Ben Gurion vor und erklärte die Unabhängigkeit des Staates Israel. Wenige Stunden später beginnt mit einem Angriff der arabischen Seite der erste einer Reihe von Kriegen. 1949 schliesst ein Waffenstillstand den Unabhängigkeitskrieg ab. Das Waffenstillstandsabkommen beinhaltet auch von Israel annektierte Gebiete, die über das im UNO-Teilungsplan zugesprochene Territorium hinausgehen. 1967 besetzt Israel weitere Gebiete, die ausserhalb dieser Waffenstillstandslinien liegen.

Aus Sicht der im März 1945 gegründeten Arabischen Liga sei es völlig klar gewesen, dass mit der Ausrufung eines israelischen Staates ein grosses Unrecht passiert sei, erläutert Petry die arabische Position. «Sie sind überzeugt, dass sie hier betrogen werden.» Auf jüdischer Seite in und ausserhalb Palästinas wiederum habe keine völlige Einigkeit bestanden.

Die Sichtweisen anderer Staaten und der UNO richten sich auch nach den Zielen, die sie verfolgten. So habe die UNO in der klaren Trennung eine Lösung des Konflikts zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen gesehen. Schliesslich lief es schon bei Indien und Pakistan so. Und Grossbritannien? Die Briten hätten, wie gewohnt, auch im Fall Palästina für sich geschaut. Aus heutiger Sicht sei es möglicherweise ein Fehler gewesen, dass die Arabische Liga nicht sofort ebenfalls einen arabischen Staat ausgerufen habe. Dies habe zu einem Ungleichgewicht in der Diskussion geführt.

Die verschiedenen Wahrheiten seien nicht als Auswahlsendung zu verstehen. «Es erspart uns nicht, genau auf die einzelne Situation zu schauen», sagt Petry. Auf Fakten zu checken sind nicht nur Aussagen, sondern auch Bilder.

Text von Regula Vogt-Kohler in Kirche heute